Systemische Projektarbeit: Interview von Michael Jastram mit Peter Siwon (Teil 1)

Geschäftsführer / Principal Systems Engineer
Formal Mind GmbH
Im September bat mich Herr Jastram der Formal Mind GmbH um ein Interview zum Thema Systemische Projektarbeit bzw. systemisches Projektmanagement für seinen Blog. Nach einem sehr angenehmen und anregendem Vorgespräch stimmte ich zu. Im Folgenden finden Sie einen Auszug des Interviews sowie einen Link zum vollständigen Interview.
Jastram: Kurz in Ihren Worten: Was ist systemische Projektarbeit bzw. Systemisches Projektmanagement, und warum sollte sich ein Systems Engineer damit auseinandersetzen?
Siwon: Systemische Projektarbeit bzw. Systemisches Projektmanagement ist keine alternative Form zum klassischen oder agilen Projektmanagement, sondern stellt eine Ergänzung dar. Es ist eine Möglichkeit, den Methodenbaukasten eines Projektmanagers um wertvolle Methoden und Prinzipien zu erweitern. Was ich fast noch für wichtiger halte: Man bekommt über dieses systemische Arbeiten eine Haltung zu komplexen Systemen, die einem den Job definitiv erleichtern. Egal ob man agil, nach Wasserfall oder mit irgendwelchen Mischformen von Projektprozessen oder -Vorgehensweisen arbeitet, man kann sie immer durch systemische Ansätze erweitern.
Es ist also so eine Art von Werkzeugkiste für Projektmanager, um effektiver zu arbeiten?

Ja, vor allem wenn es darum geht, mit der Komplexität fertig zu werden, die in Projekten häufig vorhanden ist. Die Komplexität steckt einerseits bei vielen Projekten im Projekt selber, also der fachlichen Ebene. Aber beim Beziehungsgeflecht im Projekt haben wir es andererseits auch mit einer sehr hohen, vielleicht sogar extrem hohen Komplexität zu tun. Viele dieser Methoden dienen dazu, mit dem Beziehungsgeflecht der Stakeholder im Projekt besser klarzukommen.
Haben Sie da ein Beispiel?
Nehmen Sie mal an, Sie bauen einen Bahnhof in der Großstadt. Da gibt es jetzt zum einen das Projektteam, das dafür zuständig ist. Und dann gibt es natürlich noch jede Menge anderer Stakeholder. Da gibt es die Linienvorgesetzten der einzelnen Projektmitarbeiter. Ein Bahnhof besteht ja aus Gleisen, Elektrik, Gebäuden, und dafür gibt es verschiedene Spezialisten und Abteilungen. Dann gibt es die Anwohner, die Naturschutzverbände, die Politik – es kann sehr, sehr komplex werden. Jeder von den beteiligten Personen hat seine eigene Persönlichkeit, eigene Erfahrungen. Erwartungen an das Projekt, die Personen, und so weiter. Bei so vielen unterschiedlichen Interessenslagen gibt es auch sehr unterschiedliche Formen von Konflikten. Die systemische Arbeit hilft dabei, besser zu verstehen, wo sinnvolle Ansatzpunkte sein könnten, um Konflikte zu lösen oder sogar zu vermeiden.
Wenn es vernünftig ist, aber die Leute nicht mitspielen, dann ist das ein Indiz, dass gegen systemische Grundsätze verstoßen wurde.
Ein Klassiker ist die Einführung von etwas Neuem, wie einem Prozess, einer Methode oder Programmiersprache. Das alles ist vernünftig, aber trotzdem spielen die Personen im Projekt nicht mit. Das ist ein Indiz für den Verstoß gegen systemische Grundsätze. Ein Grundsatz wäre, dass ich Menschen, die Mitverantwortung tragen müssen, auch mitgestalten lasse. Wenn ich das nicht tue, werden die Leute in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt, und sie wehren sich, indem sie das Änderungsangebot nicht wahrnehmen. Oder das Prinzip nach Ausgleich wird verletzt: Bei Veränderungen gibt es immer Menschen, die verlieren oder das Gefühl haben, etwas zu verlieren. Zum Beispiel ihren Status, weil ältere Mitarbeiter die neuen Ansätze noch nicht kennen, jüngere Kollegen aber schon. Da fühlen sie sich in ihrem Status als erfahrene Mitarbeiter bedroht. Die Frage ist: Was biete ich denen als Gegenleistung an? Wo schaffe ich den Ausgleich? Da wird oft vergessen, dass man an dieser Stelle etwas tun muss, oder sich zumindest Gedanken macht, was passiert, wenn nichts getan wird. Das sind konkrete Beispiele für systemische Prinzipien und ihre Anwendung in Projekten.
Ich komme ja aus dem Requirements Engineering, wo zum Beispiel die Stakeholderanalyse eine wichtige Rolle spielt. Verstehe ich es richtig, dass Sie an dieser Stelle anknüpfen würden? Nämlich die Ergebnisse der Stakeholderanalyse im menschlichen Bereich einzusetzen?
Genau. Es gibt ja viele Werkzeuge und Visualisierungen die zeigen, welchen Einfluss, welche Macht und welche Interessen sie mit dem Projekt verbindet. Was mache ich mit einem, der große Macht hat, aber dem das Projekt gegen den Strich geht? Was kann ich in der Beziehung tun und verändern, damit mir die Person zumindest nicht feindlich gesonnen ist oder quer schießt. Da kommen wir dann in die Ebene wo wir zwar wissen, das etwas zu tun ist, aber das übliche Instrumentarium, das man im Projektmanagement lernt, dafür nicht ausreicht. Und da bieten die systemischen Ansätze hilfreiche Ansätze.
Das ist ein guter Übergang zur nächsten Frage. Das Systems Engineering ist stark von Prozessen geprägt und wird von Standards und Vorschriften dominiert. Kommt da die menschliche Seite zu kurz? Und wenn ja, was kann man dagegen tun?
Ohne Zweifel brauchen wir Prozesse, Standards und Regeln. Denn diese helfen uns, uns im Projekt zu synchronisieren. Sie geben uns Orientierung, Struktur und Klarheit. Es gibt auch vielen Menschen eine gewisse Sicherheit und Halt. Gerade wenn wir dynamische Projekte haben, stellen sinnvolle Regeln und Prozesse eine Leitlinie dar, die hilft, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Problematik besteht darin, dass häufig die Einführung und Umsetzung nicht wirklich menschengerecht stattfindet. Dass man sich zu wenig überlegt, wie sich die Regeln auf die typisch menschlichen Eigenschaften auswirken, zum Beispiel das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Ein sehr erfahrener Mitarbeiter hat oft ein hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Wenn man dem einfach eine Regel hinknallt, dann wird er sich gegängelt fühlen und Widerstand leisten, versteckt oder offen. Ein Werkstudent ist wahrscheinlich dankbar, wenn man ihm hin und wieder sagt, wo es lang geht, und wird solche Regeln gerne aufnehmen. Es kann sehr unterschiedlich sein. Da muss man oft individuell entscheiden, wie man damit umgeht.
In meinen Seminaren sage ich immer wieder, dass der Mensch nicht logisch denkt, sondern biologisch: Er hat menschliche Bedürfnisse, existentielle Bedürfnisse nach Status, Sicherheit, etc. Wir wissen oft gar nicht, wo die Bedürfnisse „begraben“ sind, aber die haben oft einen viel stärkeren Einfluss auf ihr Handeln und Verhalten als die ökonomischen Aspekte.
Viele Dinge können wirtschaftlich sinnvoll sein, und dem Menschen trotzdem völlig gegen den Strich gehen. Das haben inzwischen sogar die Betriebswirtschaftler begriffen!
Wobei: Je nachdem, in welchem Umfeld man sich bewegt, wird das auch durchaus in Kauf genommen. Zum Beispiel wird eine Burgerkette sich eher weniger Gedanken um ihre Mitarbeiter machen, solange ein Burger der richtigen Qualität dabei herauskommt.
Da bin ich bei Ihnen. Sie können auch mit Macht und Einfluss solche Dinge ausgleichen – dafür zahlen Sie aber auch Ihren Preis. Da gab es zum Beispiel die Aktion von Günther Walraff, der sich bei McDonalds eingeschlichen und das Gefälle zwischen Führung und Ausführendem erkannt und für sich genutzt hat. Das war ein ganz schöner Schaden für das Image von McDonalds.
Im Grunde kann ich alles machen, wenn ich bereit bin, den Preis dafür zu zahlen.
In Bereichen, wo ich relativ leicht neue Ressourcen bekomme und mich die Ausbildung dieser nicht viel Geld kostet, kann ich mit Widerständen vielleicht etwas lockerer umgehen als im Bereich von hochqualifizierten Leuten. Wenn ich im Systems Engineering einen guten Architekten verärgere, dann verliere ich den an ein Unternehmen, wo dieser eher die Chance sieht, entsprechend wahrgenommen zu werden. Das ist ein Preis, den wir uns in vielen Unternehmen definitiv nicht mehr leisten können.
Ich habe mal ein großes Change-Projekt mitgemacht. Die Mitarbeiter wurden gefragt, wo sie das größte Defizit sehen. Die häufigste Antwort war: Das Unternehmen gibt mir nicht die Anerkennung für das, was ich für das Unternehme tue. Ob das nun richtig oder falsch ist, sei dahingestellt, aber das Bedürfnis nach Anerkennung wird offensichtlich zu wenig erfüllt. Das zweite war das Bedürfnis nach Mitsprache und Mitgestaltung. Wenn es bei einem Unternehmen mit ein paar Tausend Mitarbeitern so herauskommt, dann hat es eine gewisse statistische Relevanz.
Da muss ich an die folgende Aussage zur Menschenführung denken: Vielen Chefs fällt es schwer, auch mal Danke zu sagen. Obwohl das ganz einfach ist und hochmotivierend.
Das kann ich bestätigen. Das ist das Prinzip des Ausgleichs, und Dank ist eine Form des Ausgleichs, die wirklich nicht wehtut. Und ehrlicher Dank ist den Leuten oft lieber, als wenn sie noch ein paar Euro daraufgelegt bekommen, denn das ist eine beziehungsfördernde Form des Ausgleichs. Wir Menschen sind ja Herdentiere und brauchen die Bestätigung einer positiven Beziehung, bzw. einen positiven Bezug zu der Person, von der wir abhängig sind. Eine Bitte ist übrigens auch eine Form des Ausgleichs, das ist ja ein vorweggenommener Dank. Ähnlich ist auch der Drang nach territorialer Unversehrtheit, die oft nicht beachtet wird. Da gehen Chefs ins Zimmer herein, setzen sich auf Schreibtische. Das ist das Territorium des Mitarbeiters, auch wenn der Schreibtisch vom Chef – oder der Firma – bezahlt wurde. Oder auch Rufe wie „Kommen Sie mal mit!“ – da wird das zeitliche Territorium des Mitarbeiters einfach nicht respektiert. Damit werden die Leute, die wir am meisten brauchen – Leute, die Verantwortung übernehmen wollen – am meisten verärgert. Das passiert oft aus Gedankenlosigkeit.
Interview systemische Projektarbeit Zum Teil 2
Das vollständige Interview über systemische Projektarbeit finden Sie hier