Quellen der Macht

Wie das Wissen über Bedürfnisse uns stark macht 

Peter Siwon: Könige, Macht, Bedürfnisse
Auch die Macht der Könige speiste sich aus eigenen Bedürfnissen und der seiner Untertanen (Bild: foto art Wiesner)

„Wie soll ich die Leute dazu bringen, zu tun, was ich von ihnen erwarte? Ich habe ja keine Macht.“ Diesen oder ähnliche Sätze höre ich immer wieder in meinen Trainings und Coachings. Tatsächlich verfügen die meisten Projektleiter*innen über keine disziplinarische Macht, geschweige denn über königliche Machtmittel. Teilweise kommen Projektmitarbeiter*innen aus anderen Abteilungen. Es kann sogar sein, dass Personen im Team mitarbeiten, die in der Hierarchie über der Projektleitung stehen. Trotzdem sollen Projektverantwortliche eine Führungsaufgabe wahrnehmen. Wie soll das gehen ohne Macht? Die Antwort: Jeder Mensch hat Macht, doch viele wissen nicht, wie sie funktioniert.

Was ist Macht?

Zunächst dürfen wir uns von der Vorstellung befreien, dass Macht an eine erhöhte Position in einer Hierarchie gebunden ist. Derzeit hat Greta, ein 17-jähriges Mädchen mit einer Körpergröße von nur 1,50 m, die Macht, Hunderttausende zu mobilisieren, für mehr Klimaschutz zu demonstrieren. Mahatma Gandhi konnte Großbritannien die Unabhängigkeit Indiens ohne jede militärische Macht abringen.

Jeder Mensch, der in der Lage ist, andere Menschen dazu zu bewegen, sich für seine Ziele einzusetzen, besitzt damit auch die Fähigkeit, Macht auszuüben. So gesehen hat jeder Mensch ein mehr oder weniger großes Quantum Macht. Sogar das Baby, das scheinbar hilflos schreit, beweist seine Macht, wenn die Eltern bereit sind, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Bertrand Russel bringt es mit folgendem Satz auf den Punkt:

“Power may be defined as the production of intended effects.“
(Macht ist das Hervorbringen beabsichtigter Wirkung)

Genau das wollen wir auch in den Projekten: beabsichtigte Wirkungen hervorbringen, um ein Ziel zu erreichen.

Bedürfnisse sind die Quelle der Macht

Was gibt erfolgreichen Projektleiter*innen die Kraft, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder sich mit widerspenstigen Stakeholdern herumzuschlagen? Woher kommt die Energie, die für zielgerichtete Wirksamkeit, also Machtausübung, notwendig ist? Unbefriedigte Bedürfnisse liefern die Impulse für das Bestreben, Macht auszuüben. Sie aktivieren die Energie für Verhaltensweisen, die für die Befriedigung ebendieser Bedürfnisse sorgen. Die Bedürfnisse sind dabei so vielfältig wie die Menschen. Für die einen ist es beispielsweise der Wunsch nach Anerkennung, andere befriedigen ihr Bedürfnis nach Selbstbehauptung. Wieder andere tun es, weil sie vom Sinn des Ziels überzeugt sind.

Alle Verhaltensweisen, mit denen wir andere Menschen zur Befriedigung unsere Bedürfnisse einspannen, sind schlichtweg Methoden der Machtausübung. Völlig unabhängig davon, ob das Ergebnis der Machtausübung dem Gemeinwohl oder nur uns selbst dient, die Energie entspringt einem individuellen Bedürfnis. Auch wenn Greta oder Mahatma Gandhi sehr ehrenvolle und gemeinnützige Ziele verfolgen, entspringen diese dem Drang, ein persönliches Bedürfnis zu befriedigen. Es klingt etwas paradox, aber Altruismus ist eine – wenn auch sehr ehrenhafte – Form des Egoismus.

Wenn wir Umstehende bei einem Unfall dazu motivieren können, uns bei der Ersten Hilfe zu unterstützen, befriedigen wir dabei vor allem ein für uns wichtiges Bedürfnis. Der Beweis ist das gute Gefühl, das in uns aufsteigt, wenn unser Einsatz von Erfolg gekrönt war, oder andernfalls die große Enttäuschung.

Allerdings gelingt es uns nur dann, noch unentschlossene Menschen zur aktiven Mithilfe zu bewegen, wenn wir auch bei ihnen Bedürfnisse ansprechen, die genügend Energie zum Handeln bereitstellen. Dies geschieht beispielsweise, indem wir Menschen persönlich um Hilfe bitten und so Bedürfnisse wie Verantwortung, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft oder Zugehörigkeit ansprechen. Das Beispiel zeigt, dass nicht nur die Bedürfnisse der Person, die Macht ausüben will, eine entscheidende Rolle spielt. Auch die Bedürfnisse derer, die wir aktivieren wollen, dass sie dazu ihren Beitrag leisten, sind von größter Bedeutung.

Unsere Macht steigt mit der Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer Menschen so anzusprechen, dass sie sich im Sinne unserer eigenen Bedürfnisse verhalten.

Macht durch Lösung von Bedürfniskonflikten

Die Unfall-Situation liefert noch eine weitere interessante Perspektive zum Thema Bedürfnisse: Die Umstehenden bei einem Unfall bleiben oft untätig, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen. Das Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit blockiert das Bedürfnis, Hilfe zu leisten. Wir können Macht auf die noch Unentschlossenen ausüben, indem wir Wege finden, deren Bedürfniskonflikte zu lösen. In Erste-Hilfe-Seminaren wird folgendes empfohlen: Sprechen Sie ganz gezielt Personen an und geben klare Handlungsanweisungen. „Der Herr mit dem gelben T-Shirt, rufen Sie mit Ihrem Mobiltelefon die 112 an.“ Klare Anweisungen wirken der Angst vor Fehlern entgegen. Das direkte Ansprechen steigert das Bedürfnis, Verantwortung zu übernehmen.

Gretas Anstrengungen wären völlig nutzlos, wenn sie nicht in der Lage wäre, ihren potentiellen Unterstützern dabei zu helfen, Bedürfniskonflikte zu lösen. Viele Menschen irren in ihrer persönlichen Bedürfnislandschaft im Niemandsland zwischen dem Weiter-so-Gebiet und dem So-gehts-nicht-weiter-Gebiet umher. Greta spricht mit ihren Aktivitäten nun Bedürfnisse wie Eigenverantwortung und Existenzsicherung an. Sie bringt damit Menschen dazu, ihren Standort in ihrer Bedürfnislandschaft zu überdenken und sich ins So-gehts-nicht-weiter-Gebiet zu wagen, um sich dort aktiv für den Klimaschutz zu engagieren.

Ähnliche Situationen treffen wir auch in Projekten an. Auch hier irren Menschen immer wieder im Niemandsland zwischen dem Weiter-so-Gebiet und dem So-gehts-nicht-weiter-Gebiet umher. Oder sie geraten in ein Entscheidungsdilemma, wem sie ihre Zeit widmen sollen: ihrem Linienvorgesetzten, dem Projekt oder dem Privatleben. Und natürlich stecken immer handfeste Bedürfnisse dahinter. Führungskräfte, die es schaffen, diesen Menschen bei der Lösung dieser Konflikte zu helfen, haben die Nase vorn.

Umgang mit eigenen Bedürfniskonflikten

Die gerade beschriebenen Beispiele zeigen, wie bedeutsam es ist, Bedürfniskonflikte zu lösen. Das gilt auch für die Bedürfnisse derer, die Macht ausüben wollen. Auch hier gilt die Weisheit: Wer mit anderen gut klarkommen will, muss erst einmal mit sich selbst klarkommen.

Wie bereits erwähnt, aktivieren Bedürfnisse Energien. Je mehr unserer eigenen Bedürfnisse wir auf ein Ziel ausrichten können, desto mehr Energie steht uns zur Verfügung. Je mehr Bedürfniskonflikte wir in uns auflösen, desto ungehinderter kann diese Energie fließen. Wie könnte das praktisch aussehen? Viele Bedürfniskonflikte entstehen durch Überlastung. Man ist unzufrieden, weil aufgrund zu vieler Aufgaben eigene oder fremde Erwartungen nicht mehr erfüllt werden können. Bedürfnisse wie Selbstwirksamkeit, Anerkennung oder Sicherheit kommen unter die Räder. Hier gibt es beispielsweise folgende Lösungsansätze: Überprüfung und realistische Anpassung der Ansprüche, Reduzierung der Belastung durch Delegation oder Priorisierung, Professionalisierung der Durchführung. Die so gewonnene Energie kommt natürlich auch dem Einsatz zugute, mit dem wir noch unentschlossene oder unwillige Personen für unsere Sache gewinnen wollen. Wir haben einfach mehr Mumm, Ausdauer und mentale Kraft, um uns für unsere Sache bei anderen stark zu machen.

Es ist gleichzeitig hilfreich, wenn wir Bedürfniskonflikte auch als Aufforderung erkennen, kritische Fragen zu stellen: Ist das Ziel wirklich so wichtig? Sind die Opfer, die wir dafür uns und anderen abverlangen, angemessen? Ist es sinnvoll, die Gesundheit für Ruhm und Ehre zu riskieren?

Wenn wir die gerade gewonnenen Erkenntnisse kurz zusammenfassen, kommen wir zu folgenden Schlussfolgerungen:

Je mehr Bedürfnisse wir von uns und anderen auf ein Ziel ausrichten können, desto mehr Energie steht zur Verfügung, dieses Ziel umzusetzen.

Das Erkennen und Lösen von Bedürfniskonflikten spielen dabei eine wichtige Rolle.

Es ist allerdings keineswegs einfach, Bedürfnisse zu erkennen, einzuschätzen und auf ein Ziel auszurichten. Vor allem, wenn es sich um die eigenen handelt. Die Erkenntnis, dass hier der Schlüssel zum Erfolg liegt, ist schon einmal ein wichtiger Schritt. Ein Coaching kann sehr hilfreich sein, um Bedürfniskonflikte aufzudecken und zu lösen.

Machtverhältnisse sind sehr dynamisch

Die Verfolgung von Zielen, ob in Beruf oder Privatleben, ist häufig mit immer neuen und wechselnden Situationen und Personen verbunden. Die Bedürfnislandschaft verändert sich deshalb kontinuierlich, und alle Beteiligten streifen oder stolpern zwangsläufig durch ein Wechselbad der Bedürfnisse und Gefühle. Die Einflussfaktoren sind vielfältig und oft nicht vorhersehbar: Wetter, körperliche Verfassung, Tageszeit, Streit in der Familie, Verliebtheit, der Tonfall eines Kollegen, ein zufälliges Treffen auf dem Flur, … Oft ist es schlichtweg Glück, Pech oder Zufall, wohin es uns in dieser Bedürfnislandschaft verschlägt und wie es dort aussieht. Macht ist wie eine Knetmasse, die durch die Situation und die beteiligten Personen (inklusive der Person, die das Ziel vorgibt) ständig neu geformt wird. Darin liegt eine große Herausforderung für alle, die wirkungsvoll Macht ausüben wollen. Sie sind einerseits gefordert, gut zuzuhören und zu beobachten, und andererseits, gut in sich hineinzuhören und mutig in den Spiegel zu schauen. Nur so können sie Bedürfnislandschaft immer wieder situationsgerecht einschätzen und beeinflussen.

Bedürfnisse schaffen „Realitäten“

Oft wird behauptet, dass Führung vor allem etwas mit sachorientiertem Entscheiden und Handeln zu tun hat. Ich würde „vor allem“ durch „auch“ ersetzen. Warum? Jede Zielverfolgung bietet einen mehr oder weniger großen Spielraum für Spekulationen, Annahmen, Phantasien und Illusionen. Wer diesen Spielraum am besten im Sinne der eigenen Bedürfnisse nutzen kann, übt die größte Macht aus.

Ein Beispiel: Die technische Leiterin verbindet mit einem Projekt ein starkes Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn. Sie wird die Freiräume nutzen, um möglichst viele innovative Ansätze im Projekt unterzubringen. Sie weiß auch, dass sie damit die größten Chancen hat, beim Vorstand zu punkten. Der Controller dagegen wird die Freiräume nutzen, um Kosten zu sparen und das Projekt so wirtschaftlich wie möglich abzuschließen. Er will sich damit für die Leitung des Finanzressorts empfehlen. Die technische Leiterin und der Controller werden mit Sicherheit viele Aspekte des Projekts unterschiedlich darstellen, um ihren Einfluss zu sichern. Die technische Leiterin wird die Risiken und Kosten der neuen Technologien eher kleinreden und die Chancen hervorheben. Der Controller wird auf die Vorteile altbewährter Technologien abheben und die geringeren Risiken und Kosten betonen. Im Extremfall werden sie sogar Informationen aufhübschen oder dramatisieren, um ihr Bedürfnis-Revier zu verteidigen. Wer mit seiner kreativen Nutzung der Spielräume die stärkeren Verbündeten findet, hat die Nase vorn.

Die Verführung kann groß sein, bereits vorhandene Macht zu nutzen, um Menschen zu zwingen, statt sie für die eigenen Ziele zu gewinnen. Damit wären wir bei der populären Metapher von Zuckerbrot und Peitsche.

Zuckerbrot oder Peitsche?

Schauen wir uns nun die Begriffe Zuckerbrot und Peitsche als Metaphern für Machtmittel unter dem Gesichtspunkt von Bedürfnissen an. Zuckerbrot steht für das wirksame Bedienen von Bedürfnissen der Menschen, deren Unterstützung wir suchen. Wer sich die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse bewusst macht, wird erkennen, dass die Erfüllung der wertvollsten praktisch kein Geld kostet und gleichzeitig unbezahlbar ist. Hier nur ein paar Beispiele: Wertschätzung, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit, Verständnis, Vertrauen, Loyalität, Menschlichkeit, Zugehörigkeit, Würde, Kreativität.

Wir können Menschen beispielsweise für die Zusammenarbeit gewinnen, wenn sie dadurch Bedürfnisse wie Wertschätzung oder Loyalität befriedigen können. Wenn die erwarteten Bedürfnis-Vorteile überwiegen, sind sie bereit, Bedürfnisse wie Unabhängigkeit oder Dolce Vita freiwillig hintan zu stellen. Natürlich werden sie im Verlauf der Zusammenarbeit den Unterschied zwischen Erwartungen und Realität checken. Wenn sich eine zu große Kluft auftut, hat das Zuckerbrot schnell einen faden Nachgeschmack. Dann ist zu klären, welche Maßnahmen geeignet sind, um die Kluft wieder zu schließen, beispielsweise indem wir eine enttäuschte Erwartung durch eine Gegenleistung ausgleichen. Dies kann im einfachsten Fall eine ehrliche und wertschätzende Entschuldigung sein.

Die Peitsche steht für das Brechen von Widerstand. Widerstand entsteht durch Bedürfnisse, die sich nicht mit der Zusammenarbeit vereinbaren lassen. Beispielsweise widerspricht die Form der Zusammenarbeit dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Kreativität. „Keine Lust, suchen Sie sich einen anderen Dummen!“ Nun kommt die Peitsche: Entweder ihr tut, was ich von Euch verlange, oder ich bestrafe Euch.

Preisfrage: Wo liegt der Schlüssel für eine wirksame Strafandrohung?

Sie haben es wahrscheinlich erraten: Es sind auch hier die Bedürfnisse der Menschen. Eine wirksame Strafe entzieht oder verweigert die Erfüllung wichtiger Bedürfnisse. Beispielsweise wird die Existenz durch Entlassung, Gehaltskürzung oder einen Eintrag in die Personalakte bedroht. Das Bestreben, die Folgen einer Bestrafung zu vermeiden, verändert das Bedürfnis-Saldo zugunsten des Peitschenschwingers – allerdings zu erheblichen Kosten: Menschen, die sich zähneknirschend der Macht beugen, werden natürlich nur begrenzt Energie in das Ziel des Machthabers stecken. So viel wie nötig ist, um die wenigen positiven Anreize des Ziels zu nutzen und einer Strafe zu entgehen. Gleichzeitig muss der Machthaber viel Energie in die Kontrolle der unfreiwilligen Unterstützer stecken. Die Bedürfnis- und Energiebilanz ist ziemlich miserabel.

Ich will damit nicht abstreiten, dass es Situationen gibt, in denen eine „Peitsche“ angebracht ist. Doch sollte klar sein, dass ihre Anwendung erhebliche Energieverluste erzeugt. Wer die Peitsche schwingt, ohne zuvor über die Bedürfnisse der Menschen nachzudenken und die vielfältigen Möglichkeiten des „Zuckerbrots“ zu nutzen, entzieht den eigenen Zielen wertvolle Energie. Die damit verbundene Schwerfälligkeit bei der Zielerreichung führt zwangsläufig zu einer Erosion der Machtbasis. Gleichzeitig wird die Peitsche zum Nachteil im Wettbewerb mit Personen, die die Bedürfnisse anderer Menschen einfühlsamer mit den eigenen Zielen und Bedürfnissen verbinden können.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Unsere Macht wächst mit der Energie, die wir aus Bedürfnissen gewinnen und auf unsere Ziele fokussieren können. Wer seine eigenen Bedürfnisse und die seiner potentiellen Unterstützer versteht hat die besseren Erfolgschancen.

Literaturtipps:

Gerlinde Ruth Fritsch: Der Gefühls- und Bedürfnisnavigator, Jungfermann

Theresia Volk: Spielen um zu gewinnen, V&R

Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation, Jungfermann

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Clodwig I. „Dieses Foto“ von Unbekannter Autor ist lizenziert gemäß CC BY-NC