Timing, Team, Knowhow

Die Zauberformeln der Innovation Teil 3:
Das Richtige zur richtigen Zeit tun

Im Teil 1 und 2 dieser Artikelserie habe ich Anregungen zur Kommunikation und Prozessgestaltung gegeben, die der Innovation zugutekommen. Doch wie sorgen wir dafür, dass ein Innovationsteam in einen produktiven Arbeitsrhythmus kommt und dazu noch rechtzeitig und flexibel auf unerwartete Ereignisse reagiert? Hier gibt es interessante Parallelen zu Sportarten wie Freiwasserschwimmen und Basketball, die klarmachen, worauf es ankommt.

Wenn wir das Unerwartete erwarten sollten

Wenn wir eine Entscheidung getroffen haben und diese Entscheidung umsetzen, sammeln wir neue Erfahrungen. Diese neuen Erfahrungen beruhen einerseits auf neuen Perspektiven, die uns das praktische Handeln eröffnet. Andererseits wirken unsere Aktivitäten und andere Einflüsse auf das Umfeld unseres Projekts. Während wir handeln, verändern sich also zwangsläufig die Rahmenbedingungen, die wir ursprünglich als Grundlage unserer Entscheidung in Betracht gezogen haben. In einem dynamischen und komplexen Umfeld ist es deshalb sehr sinnvoll, die Umsetzungsphase in relativ kurzen Abständen zu unterbrechen, um die Wirkung der neuen Rahmenbedingungen für die weitere Umsetzung zu berücksichtigen. Falls sich herausstellt, dass durch eine weitere Umsetzung der bisher getroffenen Entscheidungen voraussichtlich nicht das erwartete Ergebnis erzielt werden kann, ist eine angepasste oder neue Entscheidung notwendig.

Wie man´s auch macht, es ist selten ganz richtig …

Je dynamischer sich die Umsetzung einer Entscheidung und das Umfeld gegenseitig beeinflussen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass Entscheidungen, Pläne oder Regeln lange Bestand haben. Je mehr neue Erfahrungen wir beispielsweise innerhalb kurzer Zeit in einem Digitalisierungsprojekt sammeln können, desto weniger lässt sich der weitere Verlauf des Projekts vorhersehen. Das ist das große Dilemma der Digitalisierung, das sich z.B. in inflationärer Updaterei und dem notorischen Hinterherhinken von Gesetzgeber und etablierten Organisationen widerspiegelt. Die Digitalisierung führt zu einer Erfahrungsexplosion, und die Erfahrungsexplosion erzeugt in atemberaubender Geschwindigkeit neue Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen. Dadurch wird es immer schwerer, die Folgen einer Entscheidung über längere Zeiträume einzuschätzen. Deshalb müssen Umsetzungsphasen kurz gehalten, die Rahmenbedingungen immer wieder neu bewertet und Entscheidungen häufiger auf den Prüfstand gestellt werden. Man könnte auch sagen: Wie man´s auch macht, es ist selten ganz richtig – und selten ganz falsch.

Dilemma 1: Die Wechselwirkung zwischen der Umsetzung von Entscheidungen und dem Umfeld erzeugt immer wieder neue und unerwartete Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen.

Damit kommen wir zu einem weiteren Dilemma. Wenn wir Umsetzungsphasen verkürzen, um Entscheidungen immer wieder zu hinterfragen, anzupassen oder neu zu treffen, geht das zu Lasten der Produktivität. Wenn wir längere Umsetzungsphasen planen, um produktiver zu sein, besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse nicht mehr zu den aktuellen Rahmenbedingungen passen.

Dilemma 2: Innovation und Produktivität stellen unterschiedliche Anforderungen an das optimale Timing eines Prozesses.

Die Suche nach dem optimalen Timing

Ich bin ein begeisterter Freiwasserschwimmer. Die schnellste Art vorwärtszukommen ist Kraulen. Doch bei diesem Schwimmstil ist es relativ schwer, die Richtung exakt zu halten. Also muss ich immer wieder einmal einen Zug machen, bei dem ich den Kopf aus dem Wasser strecke, um mich zu orientieren. Das bremst natürlich und bringt mich aus dem Rhythmus. Die Kunst besteht darin, ein optimales Timing von Schwimmen und Orientieren zu finden. In einem stillen Gewässer muss ich dazu seltener den Kopf heraustrecken als bei einer Freiwassertour mit wechselnden Wind-, Strömungs- und Wellenverhältnissen. In jedem Fall sollte der zusätzliche Zeit- und Energieaufwand durch die suboptimale Wasserlage beim Herausstrecken des Kopfes und notwendige Richtungsanpassungen möglichst gering sein. Für jede Tour gäbe es ein optimales Verhältnis von Schwimmphasen mit optimaler Wasserlage und Orientierungsphasen mit suboptimaler Wasserlage. Das kenne ich aber leider nicht, wenn ich lospaddle. Was mache ich also? Ich taste mich an ein gutes Timing heran, indem ich mit einem Rhythmus anfange, der mir brauchbar erscheint (z.B. 20 Züge pro Orientierungszug). Dann korrigiere ich das Timing, wenn nötig. Es ist dabei nicht sinnvoll, das Timing ständig neu zu optimieren, wenn Richtung und Tempo im Großen und Ganzen stimmen. Zum einen weiß ich nicht genau, wo das Optimum liegt, zum anderen ist es für mein Bewegungsempfinden und meinen Energieverbrauch besser, wenn ich in einem brauchbaren Rhythmus verbleibe, anstatt ständig zu versuchen, das Optimum zu finden.

Link zu Erklärvideo zum Thema Timing und Rhythmus in Innovationsprozessen

Nach ganz ähnlichen Prinzipien können Teams vorgehen, die sich ins Freiwasser der Innovation wagen:

  • Je stärker sich Umsetzung und Umgebung gegenseitig beeinflussen, desto mehr empfiehlt es sich, häufiger zwischen Orientierungsphasen (Reflexion und Entscheidung) und Umsetzungsphasen zu wechseln.
  • Es gilt im Team einen Rhythmus zu finden, bei dem der Aufwand für Orientierung und Kurskorrekturen möglichst gering ist.
  • Es ist besser, einen guten Rhythmus zu halten, als ständig zu versuchen, ein Optimum zu finden, welches praktisch nicht identifizierbar ist.

Einen guten Lösungsansatz für das Timing-Problem bieten agile Prozesse wie Scrum, Kanban oder Last Planner System. Sie beruhen auf dem Prinzip, dass das Projektteam in relativ kurzen Umsetzungsphasen sehr verbindlich Maßnahmen durchführt, die anhand einer aktuellen Bewertung des dadurch erzielbaren Nutzens beschlossen wurden. Nach jeder Umsetzungsphase werden die Ergebnisse geprüft, um die gewonnenen Erfahrungen in die Entscheidungen für die nächste Umsetzungsphase einfließen zu lassen.

Akteure und Aktionen richtig kombinieren

Neben Prozessgestaltung und Prozesstiming spielt das Zusammenwirken der Akteure (Team) und Aktionen (reflektieren, entscheiden, handeln) eine wichtige Rolle für das Innovationspotential. Im Prinzip lässt sich an zwei Stellschrauben drehen: die Kopplung von Akteuren und die Kopplung von Aktionen. Je starrer die Kopplung von Akteuren ist, desto mehr wird der Erfolg durch die spezifische Zusammensetzung und das unverwechselbare Zusammenwirken eines Teams bestimmt. Eine Band wie die Rolling Stones ist ein gutes Beispiel: einzigartige Persönlichkeiten mit einzigartigem Sound. Der unbemerkte Austausch eines Bandmitglieds dürfte ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen sein. Dagegen ist bei sehr lockerer Kopplung der Akteure im Grunde jede Person leicht ersetzbar und verzichtbar.

Link zu Erklärvideo zur Organisation innovativer Teams

Bei einer starren Kopplung von Aktionen bestehen wiederum hohe Abhängigkeiten zwischen den Handlungsschritten der beteiligten Personen.

Timing und Teamorganisation

Bildquelle: YouTube-Video von Peter Siwon

Eine Organisation mit sehr strikten Vorgaben, an welcher Stelle welche Tätigkeiten mit welchen Fertigkeiten und Befugnissen erledigt werden müssen, bevorzugt eine starre Kopplung von Aktionen. Ein klassischer Vertreter dieser Organisationsform ist die Fließbandproduktion. Folgen am Fließband sehr einfache Tätigkeiten hintereinander, können die Arbeitsplätze mehr oder weniger von beliebigen Personen erledigt werden. Wir haben es also gleichzeitig mit sehr geringen Abhängigkeiten von bestimmten Akteuren zu tun. Wenn die Tätigkeiten in einem straff durchorganisierten Prozess aber nur von bestimmten Personen mit besonderen Fähigkeiten erbracht werden können, dann sind sowohl die Aktionen als auch die Akteure eher starr gekoppelt. Diese Konstellation findet sich beispielsweise bei einem Olympia-Ruderachter, in dem die Besten der Besten hochoptimiert wie ein Uhrwerk zusammenwirken müssen, um eine Chance auf Gold zu haben.

Kleine Familienunternehmen oder Start-ups müssen die anfallenden Aufgaben nach dem Prinzip „machen wir das Beste draus“ erledigen.  Die Arbeitsteilung richtet sich flexibel nach den verfügbaren Personen. Das heißt, die Abhängigkeit von bestimmten Personen wird mit einer eher losen Kopplung von Handlungen kombiniert.

Schauen wir uns noch ein Hightech-Forschungslabor in diesem Schema an. Dort werden komplexe Versuchsreihen durchgeführt, die unbedingt reproduzierbar sein sollten. Hier ist die Abhängigkeit von bestimmten hochqualifizierten Akteuren hoch. Die Aktionen sind eher starr gekoppelt.

Welche Form der Kopplung von Akteuren und Aktionen würde wohl am besten der Innovation dienen? Innovation erfordert einerseits eine hohe Anpassungsfähigkeit der Aktionen. Gleichzeitig sollte es einen Prozess-Rahmen (Framework) geben, der dem Zusammenspiel der Akteure hilfreiche Orientierung gibt. Der Rahmen des Innovationsprozesses (z.B. Scrum-Framework) kann relativ starr angelegt sein. Innerhalb dieses Rahmens werden die Aktionen allerdings sehr kreativ und flexibel gestaltet.

Es ist bei Innovationen langfristig nicht vorhersehbar, welche Folge von Aktionen den Erfolg bringt. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir ein sehr gut eingespieltes Team. Jedes Teammitglied bringt spezielle Fähigkeiten mit und ist gleichzeitig in der Lage, das große Ganze gut genug zu verstehen, um sich mit allen anderen immer wieder neu zu koordinieren. Im Sport würde man von einem gut eingespielten Team sprechen, das in der Lage ist, sich sehr schnell strategisch und taktisch auf seinen Gegner einzustellen. Das heißt, die Kopplung der Akteure sollte eher starr sein.

Rhythmus und Spielwitz entscheiden

Ein Top-Innovationsteam ähnelt also eher einem Top-Basketballteam der NBL als einem Ruderachter: Eine relativ starr gekoppelte Anzahl von Spezialisten mit hervorragendem Überblick für das Spielgeschehen führt abhängig von dem bisherigen Spielverlauf und der Spielsituation immer wieder neue Varianten und Folgen von Aktionen durch, um zu gewinnen. Jedes Teammitglied hat seine besonderen Stärken, die es für bestimmte Positionen und Spielsituationen prädestiniert. Gleichzeitig verfügt jedes Teammitglied über genug Routine, um auf jeder Position und in jeder Situation professionell das Spiel zu unterstützen, wenn es notwendig ist – auch wenn das nicht auf dem hohen Niveau der Spezialisten geschieht. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von T-shaped People. Der Querbalken des Buchstaben T steht für die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten im Spiel (oder Projekt), und der vertikale Balken steht für das Niveau auf dem Spezialgebiet. Teams mit Mitgliedern, die ein solides T-Profil aufweisen, sind in der Lage, gleichzeitig sehr flexibel und sehr professionell zu agieren. Darüber hinaus ist es nützlich, auch π-shaped (Pi-shaped) People im Team zu haben. Der L-förmige Teil des π symbolisiert die Führungsqualitäten (Leadership-Qualitäten). Diese Personen sind z.B. in der Lage, zeitweise Führungsverantwortung zu übernehmen, wenn es dem Team und seinem Ziel dient. Wenn ein Team mit diesen Voraussetzungen dann noch in der Lage ist, seinen Spielrhythmus zu finden, dann läuft es rund. Rund kommt nicht von ungefähr, denn π ist ja auch das Symbol für die Kreiskonstante.

Link zum Erklärvideo über Knowhowprofile innovativer Teams.

Knowhowprofil und TimingBildquelle: YouTube-Video von Peter Siwon

Fazit: Erfolgreiche Innovationen werden durch ein Timing unterstützt, das die sich verändernden Rahmenbedingungen des Umfelds angemessen berücksichtigt und gleichzeitig für einen möglichst gleichbleibenden Rhythmus der Prozessphasen sorgt. Phasen der Reflexion und Entscheidung wechseln sich dabei mit Phasen der Umsetzung und der Erfahrungssammlung ab. Die notwendige Flexibilität innerhalb eines klaren Handlungsrahmens und die geeigneten Fähigkeiten bieten eingespielte, stabile Teams, deren Mitglieder über eine gute Kombination von Wissens- und Erfahrungsvielfalt, Spezialisierung und Führungsqualitäten verfügen. Wie im Sport ist das Geheimnis des Erfolgs die erfolgreiche Kombination von Spielerfahrung, Rhythmus und Spielwitz.

Wer darüber hinaus mehr erfahren will, was ein gutes Team ausmacht, wie es entsteht, wächst und belastbar wird, dem empfehle ich meinen Artikel und die Videos zum Thema „Warum gute Teams nicht vom Himmel fallen“.

Im nächsten Teil dieser Artikelserie geht es um die vielfältigen psychologischen Hürden, die es zu nehmen gilt, wenn wir Innovation vorantreiben wollen. Es ist hilfreich, diese psychologischen Phänomene zu verstehen, um ihre Vorteile bestmöglich zu nutzen und die Nachteile vermeiden zu können.