Wie aus Unwissenheit, Verwirrung, Hilflosigkeit wertvolle Ressourcen werden
Manchmal kommt es uns so vor, als müssten Projektverantwortliche so etwas wie Superwoman oder Superman sein. Was sie nicht alles können sollen: fachlich durchblicken, verhandeln, motivieren, souverän Konflikte und Krisen lösen, schwierige Gespräche moderieren, empathisch sein, sich durchsetzen, Humor beweisen, hohe Resilienz aufweisen und und und. Stellenanzeigen für Projektverantwortliche: „Helden*innen gesucht“. Doch wie gehen sie mit natürlichen Begleiterscheinungen der Projektarbeit wie Unwissenheit, Verwirrung, Hilflosigkeit um?

Der Realität ins Auge sehen
Meine Empfehlung: Versuchen Sie nicht, dieser Übermensch zu werden oder zu sein – sie können nur scheitern. Besser ist es, wenn Sie Unwissenheit, Verwirrung und Hilflosigkeit als natürliche Gegebenheit Ihres Jobs annehmen und sie als wertvolle Ressource nutzen. Das klingt jetzt erst einmal paradox und scheint dem Ideal des toughen Machers zu widersprechen. Doch Sie werden sehen, die wahren Heldinnen und Helden sind ganz normale Menschen, die bereit sind, der Realität Ihrer Unvollkommenheit ins Auge zu schauen.
Die Realität ist, dass jeder Mensch irgendwann an seine Grenzen stößt, was Wissen, Orientierung und Autonomie betrifft – der eine früher und der andere später. Es ist wichtig, dass wir nicht nur als Projektverantwortliche diese Grenzen erkennen und akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, schlägt ein sehr interessanter psychologischer Effekt zu, der Projekten und Menschen großen Schaden zufügen kann: die Projektion. Unter diesem Begriff versteht man folgendes Phänomen: Menschen, die eine Schwäche nicht wahrhaben wollen, projizieren dieses Defizit auf andere. Der Perfektionist wird alles tun, damit er seinem übersteigerten Anspruch gerecht werden kann. Ebenso schützt sich die notorische Besserwisserin oder der stets souveräne Macher. Die unfähigen Mitarbeiter*innen, Zulieferer, Chefs und Chefinnen oder die untragbaren äußeren Umstände müssen als Sündenböcke herhalten. Die eigene Weste bleibt so sauber. Der durch die äußeren Umstände eingebremste „Superheld“ fühlt sich als Opfer seiner Umgebung. Klingt nicht gerade heldenhaft.
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich die Folgen dieser Haltung für das Projektklima, die Kooperationsbereitschaft oder die Beziehungen mit vielen Beteiligten auszumalen. Wer Schuldige sucht, um sein verzerrtes Selbstbild zu bewahren, wird durch dieses Verhalten genau das erschweren, was Projekte am nötigsten brauchen: Transparenz, Teamgeist und Lernbereitschaft. Diese Person provoziert destruktive Gegenreaktionen bei den „Sündenböcken“, die dann das tun, was Böcke nun einmal gerne tun: Sie bocken. Sie werden dem Schlaumeier Informationen vorenthalten, denn er weiß ja ohnehin schon alles. Eigeninitiative schafft Angriffsfläche, also lieber in Deckung bleiben. Sie werden die Macherin machen lassen, auch wenn sie wissen, dass diese sich eine blutige Nase holt. Sie werden sich insgeheim freuen, wenn sie von ihrem hohen Ross fällt oder ihr ein Zacken aus der Krone bricht. Sie werden meist versuchen, irgendwie das Projekt zu retten, nicht aber die selbstherrliche Projektleitung. Doch auch da gibt es Grenzen.
Wer dagegen Unwissenheit, Verwirrung, Hilflosigkeit als Helfer annimmt und nutzt, vermeidet nicht nur unselige Projektionen und die angedeuteten Gegenreaktionen, sondern profitiert von weiteren Vorteilen.
Unwissenheit öffnet uns für neue Erkenntnisse

Sobald wir uns eingestehen, dass wir etwas nicht wissen, suchen wir nach Erkenntnis und sind bereit dazuzulernen. Voraussetzung ist allerdings, dass wir uns nicht als Opfer eines Informationsboykotts sehen, sondern als aktive Sucher und Finder. Wir fragen hemmungslos, erkunden neugierig den Projekthorizont und erweitern ihn. Wir experimentieren mit neuen kreativen Lösungswegen. Wir überschreiten die Grenzen zwischen Abteilungen, Hierarchien, Disziplinen und Mentalitäten. Wir stehen mutig zu unseren Wissenslücken und laden andere dazu ein, sie zu füllen. Gleichzeitig erleichtern wir es unseren Mitmenschen, ihre Zweifel, Unsicherheiten und Wissenslücken offenzulegen. Gemeinsam lassen sich viele dieser Lücken füllen. Es ist ein Geben und Nehmen. So bieten sich viele Gelegenheiten, uns gegenseitig mit Erkenntnissen zu bereichern und Wertschätzung und Anerkennung auszutauschen. Damit werden wir alle schlauer. Gleichzeitig bewahren wir uns eine gewisse Bescheidenheit. Schließlich entwickeln wir ehrliche Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber unseren Mitmenschen. Na, wenn das nichts ist!
Hilflosigkeit baut Netzwerke

Die Spezies Mensch hat ein Erfolgsrezept und das heißt Kooperation. Es ist gut, wenn wir uns immer wieder klarmachen, dass vor allem die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzutun und gemeinsam ein Ziel zu verfolgen, die Menschheit vorangebracht hat. Ähnlich wie bei der Unwissenheit ist auch hier das Prinzip des Gebens und Nehmens ein wirksames Überlebensprinzip. Wer Hilflosigkeit als Helfer akzeptiert, nimmt aktiv Kontakt zu anderen Menschen auf, um in einen Austausch von Leistung und Gegenleistung zu treten. Die Bitte um Hilfe und die Bereitschaft, sich dafür zu revanchieren, schafft Beziehungen. Beziehungen beruhen auf der wechselseitigen Unterstützung bei der Befriedigung von Bedürfnissen. Soziale Netzwerke und Ökosysteme entstehen durch das wechselseitige Geben und Annehmen von Unterstützung. Die Bitte um Hilfe oder das Anbieten von Hilfe sind dabei häufig der entscheidende erste Anstoß. Dazu ist es allerdings notwendig, den eigenen Bedarf an Hilfe zu erkennen sowie das Potential und die Bereitschaft anderer, Hilfe zu geben, zu würdigen. Wir müssen bereit sein, aktiv um Hilfe zu bitten, sie bereitwillig anzunehmen und den ehrlichen Willen zum Ausgleich zu entwickeln.
Verwirrung schafft Struktur

Wenn wir zu unserer Verwirrung stehen, dann erkennen wir an, dass wir derzeit keine Struktur haben, die uns die nötige Orientierung, einen guten Überblick oder eine brauchbare Entscheidungshilfe liefert. Damit sind wir bereit, dieses Problem aktiv anzugehen. Wir suchen nach Menschen, Methoden und Prozessen, die Struktur schaffen. Wer sich auf die Suche nach Struktur macht, wird durch die Entdeckung unzähliger kreativer Möglichkeiten belohnt, Ordnung ins Chaos zu bringen. Oft erkennen wir Strukturen dadurch, dass wir unterschiedliche Perspektiven kennenlernen und nutzen. Sie erschließen sich durch die Kommunikation über diese Unterschiede und die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt zu verlassen. Wir werden auch erkennen, dass es oft mehrere Möglichkeiten gibt, Strukturen zu schaffen. Oft lohnt es sich, verschiedene Varianten auszuprobieren. Beispielsweise ist es sinnvoll, Projektstrukturpläne nach verschiedenen Gesichtspunkten (z.B. Objekte, Tätigkeiten, Projektphasen, Rollen) zu erstellen, da verschiedene Perspektiven unterschiedliche Einblicke eröffnen. Wir werden aber auch lernen zu akzeptieren, dass wir in komplexen Projekten immer einen gewissen Grad an Verwirrung aushalten müssen und können. Wir entwickeln dann die Zuversicht, dass es möglich ist, Projekte zum Erfolg zu führen, auch wenn wir nicht alles unter Kontrolle haben können.
Sie haben noch weitere Schwächen neben Unwissenheit, Verwirrung, Hilflosigkeit? Großartig! Entdecken Sie auch hier die versteckte Ressource und nutzen Sie diese.
Die Welt ist groß und Rettung lauert überall
Abschließend passt folgendes Zitat sehr gut: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall.“ Es ist der Ausspruch des weisen Großvaters Bai Dan in dem Roman von Ilija Trojanow, für den ebendieses Zitat als Titel gewählt wurde. Den gleichnamigen Film von Stephan Komanarev kann ich wärmstens empfehlen. Die Anerkennung von Unwissenheit, Verwirrung, Hilflosigkeit und anderen scheinbaren Schwächen steigert unsere Bereitschaft, uns dieser großen Welt zu öffnen und den Blick dafür zu schärfen, wo Rettung lauert. Viel Glück dabei!
Quellen:
- Fotos: foto art Wiesner
- Die drei Helfer wurden mir in einem Seminar von Prof. Matthias Varga von Kibed vorgestellt und sie wurden zu meinen ständigen, wertvollen Begleitern.